Mit dem Wort “Waidmännisch” war ursprünglich ebenso wie mit dem inhaltsgleich verwendeten Begriff “Waidgerechtigkeit” eine fachgerecht ausgeübte Jagd gemeint. In diesem Sinne Waidgerecht handelte also ein Jäger, der sein Handwerk verstand. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich der Begriff durch Hinzutreten des Gedankens der Hege sowie des verantwortungsvollen Schutzes des Wildes gewandelt. Heute bezieht sich der Begriff der Waidgerechtigkeit auf drei Aspekte: Der Tierschutzaspekt betrifft die Einstellung des Jägers zum Tier als Mitgeschöpf, dem vermeidbare Schmerzen zu ersparen sind. Der Umweltaspekt fordert vom Jäger die Einbeziehung der Umwelt in ihrer Gesamtheit in sein Denken und Handeln. Der mitmenschliche Aspekt betrifft das anständige Verhalten gegenüber anderen Jägern sowie der nicht die Jagd ausübenden Bevölkerung.
Nach § 1 Abs. 3 BJG sind bei der Ausübung der Jagd die allgemein anerkannten Grundsätze deutscher Waidgerechtigkeit zu beachten. Der Begriff der Waidgerechtigkeit kann als die Summe der rechtlich bedeutsamen, allgemein anerkannten, geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln definiert werden, die bei der Ausübung der Jagd als Waidmännische Pflichten zu beachten sind.
Nicht unter den Begriff der Waidgerechtigkeit fällt das jagdliche Brauchtum, soweit dadurch keine ethischen Pflichtgebote verwirklicht werden. Wer also etwa “über die Strecke tritt”, das Wild nicht “verbricht” oder die Waidmannssprache nicht beherrscht, verletzt nicht die Grundsätze der Waidgerechtigkeit, sondern Jagdbräuche. Diese haben als Teil der Jagdkultur ihre Bedeutung, ihnen kommt aber im Jagdbetrieb keine Funktion zu, die einen der drei oben genannten Aspekte der Waidgerechtigkeit betrifft.
Der Begriff “bei der Ausübung der Jagd” in § 1 Abs. 3 BJG bezieht sich nicht nur auf die eigentliche Jagdausübung, d.h. das Aufsuchen, Nachstellen, Erlegen und Fangen von Wild im Sinne des § 1 Abs. 4 BJG. Ansonsten würden weite Bereiche mit engem Bezug zur eigentlichen Jagdausübung von der Geltung und Anwendung der Grundsätze der Waidgerechtigkeit ausgeschlossen, was mit dem Sinn und Zweck des § 1 Abs. 3 BJG nicht vereinbar wäre. Dieser liegt darin, ein jägerisches Verhalten vorzuschreiben, das sich an ethischen Maßstäben orientiert, die nach allgemein anerkannter Ansicht in der Jägerschaft bestehen. Diese ethischen Maßstäbe beziehen sich nach dem Verständnis der Jäger von der Jagd nicht nur auf die eigentliche Jagdausübung, sondern gehen darüber hinaus und sind vom Gesetzgeber in § 1 Abs. 3 BJG gewissermaßen “hineingedacht” worden. Deshalb ist der Satzteil “bei der Ausübung der Jagd” in einem weiteren Sinn zu verstehen, d.h. die Grundsätze der Waidgerechtigkeit sind bei allen Maßnahmen zu beachten, durch die das Jagdrecht, also die Befugnis, auf einem bestimmten Gebiet Wild zu hegen, darauf die Jagd auszuüben und es sich anzueignen (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BJG), verwirklicht wird. Zur Jagdausübung im weiteren Sinne nach § 1 Abs. 3 BJG gehören also auch die Schaffung von Äsungsflächen, Wildeinständen und jagdlichen Einrichtungen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Allgemein anerkannt sind alle Regeln, die im Bewusstsein der ganz überwiegenden Zahl der Jäger lebendig sind.
Die allgemein anerkannten Grundsätze der Waidgerechtigkeit haben in vielen geschriebenen Regeln ihren Niederschlag gefunden. So wird im Bundesjagdgesetz z.B. bestimmt, dass
- die Hege die Erhaltung eines artenreichen Wildbestandes sowie die Pflege und Sicherung seiner Lebensgrundlagen zum Ziel hat (‘§’ 1 Abs. 2 BJG),
- auf Schalenwild nicht mit Schrot geschossen werden darf (‘§’ 19 Abs. 1 Nr. 1 BJG),
- Büchsenpatronen unterhalb einer bestimmten Auftreffenergie bzw. eines bestimmten Kalibers nicht verwandt werden dürfen (§ 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und b BJG),
- auf gesundes Wild nicht mit Pistolen oder Revolvern geschossen werden darf (§ 19 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d BJG),
- Schlingen jeder Art, in denen sich Wild fangen kann, nicht aufgestellt werden dürfen (§ 19 Abs. 1 Nr. 8 BJG),
- Wild nicht vergiftet werden darf und keine vergifteten oder betäubenden Köder verwandt werden dürfen (§ 19 Abs. 1 Nr. 15 BJG),
- in den Setz- und Brutzeiten bis zum Selbständigwerden der Jungtiere die für die Aufzucht notwendigen Elterntiere, auch die von Wild ohne Schonzeit, grundsätzlich nicht bejagt werden dürfen (§ 22 Abs. 4 Satz 1 BJG) oder
- krankgeschossenes Wild unverzüglich zu erlegen ist, um es vor vermeidbaren Schmerzen oder Leiden zu bewahren; gleiches gilt für schwerkrankes Wild, wenn es nicht gesundgepflegt werden kann (§ 22a Abs. 1 BJG).
Die ungeschriebenen Regeln decken den Bereich ab, in dem ein jägerisches Verhalten nach allgemein anerkannter Ansicht jagdethisch abzulehnen ist, wobei die eingangs aufgeführten drei Aspekte Grundlage der Beurteilung sein müssen, also Tierschutz-, Umwelt- und mitmenschlicher Aspekt. Welche Handlungen insoweit Waidgerecht sind und welche nicht, kann nicht allgemein und erschöpfend im Detail festgelegt werden. Vielmehr ist jeder Einzelfall gesondert zu beurteilen und abhängig vom Motiv des Handelnden, dem Objekt dieser Handlung und dem Ort des Geschehens. Jedenfalls ist keineswegs alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Vielmehr fordern die Grundsätze der Waidgerechtigkeit eine Selbstbeschränkung des Jägers.
So darf die technische Machbarkeit auch ohne ausdrückliches Verbot niemals dazu führen, dass die Jagd zum reinen Schießen auf lebende Ziele verkommt. Würde z.B. Wild beschossen, das nicht vorher angesprochen, d.h. vom Schützen erkannt und beurteilt wurde, so wäre eine ungeschriebene Regel der Waidgerechtigkeit verletzt, auch wenn das Stück mit einem sauberen Schuss getroffen worden wäre und sich die Erlegung als sachgerecht erwiese. Denn unter dem Tierschutz- bzw. Umweltaspekt ist das Ansprechen unabdingbare Voraussetzung für die ordnungsgemäße Ausübung der Jagd.
Erhebliche Verstöße gegen geschriebene oder ungeschriebene Regeln der Waidgerechtigkeit sind keine “Kavaliersdelikte”. Sie sollten deshalb dem Jagdverband und der zuständigen Jagdbehörde zur Kenntnis gebracht werden, damit die erforderlichen Schritte eingeleitet werden können, um Wiederholungen auszuschließen. Seitens des Jagdverbandes sind vereinsrechtliche Schritte, behördlicherseits Maßnahmen bis hin zur Entziehung des Jagdscheins (§§ 17 Abs. 2 Nr. 4, 18 Satz 1 BJG) zu prüfen.
Das Jagdwesen schreitet in der Entwicklung ebenso fort wie unsere Gesellschaft als Ganzes. Deshalb sind die allgemein anerkannten Grundsätze der Waidgerechtigkeit keineswegs starr und unveränderlich. Sie bieten vielmehr auch Raum für gewandelte Auffassungen in der Jägerschaft und tragen zur Überwindung überkommener, als falsch erkannter Verhaltensweisen und damit zur Verbindlichkeit neuer Erkenntnisse für die Ausübung der Jagd bei. Die Verpflichtung des Jägers auf die Grundsätze der Waidgerechtigkeit ist auch künftig die Voraussetzung dafür, dass die Jagd in einer sich verändernden Umwelt nach ethisch-moralisch und sittlich verbindlichen Maßstäben auszuüben ist.
Bonn, 19. Juni 2000
DJV-Präsidium